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Bilder, die nicht gemacht wurden


Gast digineuling

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Gast digineuling

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Guten Tag,

 

dies ist ein Fotoforum, das sich zu einem großen Teil mit Bildern und deren Präsentation beschäftigt - aber was ist mit all den Bildern, die nicht gemacht worden sind?

 

Hier mal ein Beispiel, obwohl dieses Bild zwar gemacht, aber nie (entwickelt und) präsentiert wurde:

 

 

Anfang September auf einer Kykladeninsel. Die Saison neigte sich dem Ende zu, und der Meltemi blies schon den dritten oder vierten Tag mit 7 oder 8 Beaufort Einheimischen wie Touristen die Kehle trocken und den Verstand aus dem Hirn. Ich war in Abschiedsstimmung und schon mit der Taschenlampe - die kurze Dämmerung war lange vorbei - von der Chora in den Hafen herabgekommen, musste weiter. Jetzt wartete ich am Anleger auf die Nachtfähre, in einem Gebäude, halb Warteraum, halb Bar. Draußen rollten die ersten Lkw an - weit konnte die Fähre nicht mehr sein. Hier drin war nur ein weiterer Tisch besetzt, mit einem Koloss von Mann, doppelt so alt wie ich, doppelt so schwer, in Arbeitskleidung. Wer dem begegnete, achtete aber bestimmt nicht lange auf Gestalt, Gewicht oder Alter, sondern auf sein Gesicht, eigentlich nur noch auf seine Nase; eine Nase, wie ich sie bis dahin noch nie gesehen hatte: vermutlich krankhaft vergröbert, ins Unförmige angeschwollen, Farbe und Textur irgendwo zwischen Erd-, Him- und Brombeere.

 

Der Mann hatte zurückgegrüßt, als ich den Raum betreten hatte, beachtete mich dann aber anscheinend nicht weiter. Allein an seinem Tisch und in einem unwirklichen Mischlicht aus Kerze, Neonlicht  und der blauen Lockbeleuchtung eines Insektengrills bot er auch ohne die Wirkung dieser Nase ein faszinierendes Motiv.

 

Mit Push-Entwicklung könnte es auch ohne Blitz gehen. Ein Photo dürfte bei dem Licht mindestens so grün ausfallen wie Edward Hoppers Nachtbilder - aber das passt. Normalerweise sollte ich ihn jetzt  fragen, oder durch eine Geste um Einverständnis zu diesem Bild bitten, traue mich aber nicht. Er soll nicht denken, ich wolle dieses Photo vor allem wegen seiner Nase. Also heimlich: die Kamera steht am Rand des Tisches, die Brennweite ist weitwinkelig genug ...

 

Natürlich klappte es nicht. Ich weiß nicht, ob ich doch nicht so unauffällig gearbeitet hatte wie gehofft oder ob einfach der Spiegelschlag zu laut war - jedenfalls sah er mich an. Er lächelte - durchaus freundlich, aber schwach, resigniert. Und dann liefen diesem Schrank von Mann die Tränen übers Gesicht.

 

Ich stand auf, nahm Kamera, Glas und Karaffe mit an seinen Tisch – „Darf ich?“ - und füllte beide Gläser. Ich setzte mich, öffnete die Kamera und nahm den Film heraus.

"Signomi, Kyrie (Entschuldigung, mein Herr)“.

 

Bei dem einen Glas ist es nicht geblieben. Die Nachtfähre habe ich verpasst.

 

Das ist fast ein halbes Leben her. Ich habe seitdem nie wieder – von Stadien, Touristenattraktionen und ähnlich „öffentlichem Raum“ abgesehen - jemanden ohne dessen Einverständnis abgelichtet.

 

Gruß

Klaus

 

 

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Schöne, berührende Geschichte, danke!

 

Ich porträtiere seit längerer Zeit für ein persönliches Fotoprojekt Menschen, meist auf der Straße oder ich bitte sie zu mir ins Studio, aber ich frage bei Einzelporträts immer nach dem Einverständnis und lasse mir auch immer ein Model-Release unterschreiben.

 

Dabei war und ist meine Erfahrung, dass häufig gerade Menschen mit offensichtlichen besonderen "Merkmalen" (Verletzungen, Deformationen, Behinderungen, Abweichungen vom üblichen Schönheitsklischee, soziale Außenseiter ...) gar nicht so ablehnend reagieren, wenn man in Ruhe mit Ihnen spricht und einen menschlichen Zugang findet, im Gegenteil: mir ist es mehr als einmal passiert, dass diese Menschen mir hinterher gedankt haben, weil sie merkten, dass es mir nicht um Voyeurismus geht, sondern um Interesse an ihrer Person. Und ich hatte hinterher sehr oft das Gefühl, jemandem durch mein Interesse und meine Aufmerksamkeit etwas Gutes getan zu haben!

 

Grüße, Ludwig

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Schöne Geschichte!

 

Man sollte sich als Fotografierender seiner "Macht" schon bewusst sein. Gerade Menschen mit auffälligen äußetlichen Merkmalen gehören für mich, wie auch Kinder, zur schützenswerten Gruppe. Es ist eigentlich nicht zu viel verlangt, vor einem Foto auch über die Folgen dieses Vorgangs nachzudenken.

 

Ich knipse auch seit Jahren auf der Straße und in der Öffentlichkeit. Unter den tausenden von Motiven finde ich keine ausstellerische Ablichtung von Menschen im Speziellen.

 

Vielen Dank für Dein ehrliches Beispiel!

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Gast digineuling

Danke, Ludwig, danke, kavenzmann, für die freundlichen Antworten und natürlich auch Dank für die Likes.

 

Der Schlüssel ist Respekt, denke ich – nicht unbedingt im strengen deutschen Sinn, in dem ja immer auch ein Beiklang von Gehorsam mitschwingt – eher im Sinne von Rücksichtnahme, Achtung vor der anderen Person, achtsamer Behandlung des anderen Menschen, die jeden Egoismus, jede Selbsterhebung über andere verbietet.

 

Über den Umgang mit anderen Menschen habe ich noch ein weiteres Geschichtchen, das vielleicht nicht ganz in ein Fotoforum, aber auf den zweiten Blick überall dahin passt, wo Menschen miteinander umgehen, also auch in jedes Forum. Dieser eher legere Thread mag es verkraften; außerdem ist es eins meiner Lieblingserlebnisse, vielleicht könnt Ihr das nachvollziehen:

 

 

Verlorenes

 

In sehr viel jüngeren Jahren, ich war noch in der Ausbildung, ergab es sich, dass einer meiner Vorgesetzten ein rundes Arbeitsjubiläum feierte, vielleicht auch schon seine Verabschiedung in den Ruhestand – so genau weiß ich das nicht mehr. Der Mann war zuständig für den Export nach Nah- und Fernost, und er war prädestiniert für diese Aufgabe. In seinen Eltern und Großeltern vereinigten sich mehrere europäische Herkunftsländer und zwei asiatische, er sprach die Sprachen seiner Familie fließend und ein paar andere dazu, war lange und weit herumgekommen, und wenig Menschliches dürfte ihm fremd gewesen sein. Vor allem war er sich seiner Verantwortung Mitmenschen, insbesondere Untergebenen gegenüber sehr bewusst und behandelte diese freundlich und achtsam – möglicherweise war es der asiatische Einfluss seiner Familie, der ihn wissen ließ, wie schnell jemand „sein Gesicht verlieren“ kann, der ihm aber auch die Mittel gab, darauf zu reagieren.

 

Zur Vorbereitung der erwähnten Feier gab es einiges zu tun. Räume wurden hergerichtet, Kabel verlegt, die ortsansässige Gastronomie lieferte, was Küche, Koch und Keller hergaben (den Begriff „Catering“ gab es für uns noch nicht). Zur Fronarbeit des Schleppens wurden natürlich die Auszubildenden herangezogen, manche von ihnen, vor allem die männlichen, ungelenk und ungeschickt, wie das in dem Alter manchmal so ist. Einem besonders tolpatschig-tölpelhaften, nämlich mir, gelang es dann, beladen mit einem vollen Tablett über ein Kabel zu stolpern, welches da – das wusste ich ganz genau – wenige Minuten zuvor noch nicht gelegen hatte. Und schon hatte sich, was vorher kunstvoll auf dem Tablett gestapelt war (im wesentlichen geräucherte Forellenfilets und dergleichen) in ziemlich weitem Umkreis (man hatte ja Schwung) auf dem Teppichboden verteilt.

 

Jung-Kläuschen steht also da wie ein begossener Pudel, putterrot oder kreidebleich oder auch abwechselnd beides. Auch der Grund der Feier schlendert heran (entgeht dem nie etwas?), beschaut sich den Fall schweigend, geht in die Hocke, nimmt sich in aller Seelenruhe das Tablett, sammelt den Fisch ein, vergisst auch das Grünzeug nicht, stapelt neu und arrangiert, gar nicht ungeschickt, richtet sich schließlich – immer noch schweigend – wieder auf, blickt einmal in die Runde: „So, liebe Leute, und das stellen wir auf den Vorstandstisch!“

 

Ich werde ihn lieben bis ans Ende meiner Tage.

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das Ende der Geschichte enttäuscht mich sehr. :(

Ich kenne diese Vorstände nicht.

Du gibst uns leider auch nicht die Möglichkeit ( obschon du sonst sehr blumig schreibst und beschreibst ) hier eine Einschätzung zu treffen oder sind Vorstände per se schlecht?

 

Gruß

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Gast digineuling

Nein, bibo,

 

die Einschätzung, die Du möchtest, ist hier nicht nötig. Es spielt keine Rolle, ob so ein Firmenvorstand "per se", für mich oder für andere gut oder schlecht ist. (Der damals war übrigens wesentlich besser als der aktuelle, soweit ich das von außen beurteilen kann - mein beruflicher Weg ist nach der Ausbildung völlig anders verlaufen als geplant.) Es ist auch völlig gleichgültig, ob das bewusste Tablett wirklich auf dem Vorstandstisch gelandet ist oder ob es nicht doch gegen einwandfreie Ware ausgetauscht wurde (was ich jetzt einmal annehme).

 

Wenn allerdings eine Erklärung für diese Story nötig ist, dann habe ich sie tatsächlich schlecht erzählt ... nächstens mach ich's dann hoffentlich besser.

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